Heiner FranzenW A K E30.04.–22.08.2021Ebensperger Berlin
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Kolja Reichert
SCHNITT/SCHNNNITT
Brust. Kopf. Arme. Natur. Mensch. Mensch. Erstes Bein. Zweites Bein: Eine nüchterne anatomische Bestandsaufnahme des Menschen mittels isolierter Begriffe wird in Heiner Franzens Videoinstallation "W A K E" in sieben Projektionen von einem 3D-modellierten Kopf ausgestoßen.
Die Worte sind Marquis de Sades Lobpreisung des Tötens entnommen, wie sie der Schauspieler Patrick Magee mit der kaum merklich zuckenden Mimik eines Psychopathen im Film "Marquis/Sade" von 1967 auf die Leinwand brachte (Peter Brooks Filmadaption von Peter Weiss' Theaterstück "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" von 1964).
De Sade, der zum Revolutionsrichter ernannte Autor von Gewalt- und Sexfantasien und einstige Gefangene der Bastille, weidet sich hier an der Erinnerung an die stundenlangen öffentlichen Hinrichtungen, wie sie die Massen berauschten und einschüchterten, bis die Guillotine eingeführt wurde: das mechanische Schnittinstrument, das die Industrialisierung auf dem Schafott einläutet und in technischer Hinsicht als Vorwegnahme des Films gelten kann.
In der körperlichen Welt bricht der Schnitt das Leben ab. In der mentalen Welt wirkt er verlebendigend: Aus dem Aufblitzen filmischer Einzelbilder animiert das Hirn die Illusion lebendiger Abläufe. In der Kunst wiederum lässt der Schnitt den inneren Projektionsapparat, der alles, was wir sehen, abgleicht mit dem, was wir mal gesehen haben und so den reibungslosen Ablauf menschlicher Verständigung garantiert, von der Spule springen. Etwas passt nicht ins Muster, etwas sitzt nicht im gewohnten Winkel, etwas Vertrautes wirkt fremd, etwas Fremdes vertraut. Kein Geländer hält einen. Die produktive Leistung der Kunst liegt im Glitch: im Verrutschen des Kontexts, dem kurzen Fehler im Film, dem Blitz hinter der Augenhöhle. Ein Film ist eine Zeichnung ist eine Skulptur. Alle Sinne sind gespannt.
In Heiner Franzens Werk ist der Schnitt die zentrale Technik, die auch quer durch Medien schneidet: Jede seiner Zeichnungen lässt sich als fixiertes Einzelbild einer über Jahre belichteten Animation beschreiben, die sich mal in Objekten, mal in Häusern, mal in Videos niederschlägt, mal in seinen Vorträgen in der Hochschule oder im Atelier. In der Videoinstallation "W A K E" unternimmt Franzen eine Reihe von Schnitten: Er trennt die Mimik des Schauspielers Patrick Magee von dessen Filmbild, indem er den Kopf als 3D-Modell nachbaut. Er teilt das Bild auf sieben Projektionen auf, die ihrerseits einander schneiden und verstellen. Er zerteilt die Tonspur und reduziert die verlebendigende Form der Erzählung auf eine serielle technische Aufzählung. Und dann ist da natürlich der vom Körper getrennte Kopf, der das Motiv der Enthauptung nicht nur auf der Text-, sondern auch auf der Bildebene spiegelt.
Der Kopf als motorisches Steuerungszentrum, Sinngenerator und Interface zur Welt ist auch Gegenstand der Arbeiten „Face1“, „Face2“ und „TysonTwin“. In der Ein-Kanal-Projektion „TysonTwin“ bewegt sich der Kopf Mike Tysons, zeitlich leicht verschoben im Double mit sich selbst (das traumatische Motiv der Dopplung taucht in Franzens Werk immer wieder auf, etwa im Videoloop „Twin“, 2009). Wir sehen den Boxer und Taubenzüchter zweimal nebeneinander mit leicht verschmitztem, in sich gekehrtem Lächeln, wie in dem Moment, in dem einem ein Gedanke kommt. Dieser Moment ist allerdings auf vierzehn Minuten gestreckt. Franzen hat die beiden Bewegungsabläufe aus zahlreichen Sequenzen montiert und Lücken mit Einzelbildern aufgefüllt, hat Tyson also animiert. Aus der filmischen Aufzeichnung Tysons wurde eine Simulation Tysons, in der Heiner Franzen die Regie über den Ausdruck des Boxers übernimmt – ein Spiel zwischen der Figur des auf Funktion getrimmten Sportlers und der des Künstlers, der Logiken des Funktionierens bis in ihr Umschlagen und Scheitern verlängert.
Die Interaktion der beiden Köpfe mit dem eigenen löst eine heitere Aufmerksamkeit aus, wie sie nur das Zusammenspiel von menschlicher Absicht und Material auslösen kann. Maschinen können es nicht. "Künstliche Intelligenz funktioniert nicht", erklärt Heiner Franzen, "weil sie die Imagination nicht aufrecht erhält."
Die Ausstellung "W A K E" hält also nicht nur dem Menschen einen Spiegel vor mittels digitalem Double eines Schauspielers, der einen Anstaltsinsassen doubelt, der sich als Todesrichter doubelt, und eines Boxers, der vom Künstler als sich selbst doubelnd gedoubelt wird. "W A K E" extrapoliert fundamentale Fragen des Bildes angesichts der Möglichkeiten seiner Automatisierung. Der Marquis de Sade kontert die objektivistischen Machbarkeitsfantasien der Revolution mit subjektiven Machbarkeitsfantasien menschlicher Grausamkeit.
"W A K E" wiederum kontert die Machbarkeitsfantasien digitaler Automatisierung mit jener delirierenden Wachheit, die nur ein von menschlicher Imagination belebtes Werk verschaffen kann; ein Werk, das den Riss und den Glitch als die produktivste Form überhaupt versteht.
CUT/CCCCCUT
Chest. Head. Arms. Nature. Man. Man. First leg. Second leg: in Heiner Franzen’s video installation W A K E, a matter-of-fact inventory of human anatomy in single words is uttered by a 3D-modelled head in seven projections. The words are taken from the Marquis de Sade’s praise of killing, as spoken by the actor Patrick Magee with the barely perceptible facial twitch of the psychopath in Marat/Sade, Peter Brook’s 1967 film adaptation of Peter Weiss’s 1964 play The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat as Performed by the Inmates of the Asylum of Charenton Under the Direction of the Marquis de Sade. De Sade, author of violent sex fantasies and former prisoner of the Bastille appointed judge by the revolution, revels here in his memories of the prolonged public executions that exhilarated and intimidated the masses before the advent of the guillotine – the mechanical cutting instrument that heralded the industrialization of the scaffold and which in technical terms can be viewed as a precursor of film.
In the physical world, the cut discontinues life. In the mental world, it has an animating effect: out of a flickering sequence of still cinematic images, the brain generates the illusion of living action. In art, on the other hand, the cut causes our inner projector – that compares everything we see with everything we’ve seen before, ensuring the smooth functioning of human cognition – to malfunction. Something doesn’t fit the pattern, departs from the usual angle; something familiar feels strange, something strange familiar. The steadying handrail is missing. Art’s productive input lies in the glitch: a slipping of context, a tiny error in the film, a flashing behind the eyes. A film is a drawing is a sculpture. Alerting all the senses.
In Franzen’s work, the cut is the central technique, also cutting across media: each of his drawings can be described as a single image from an ongoing animation shot over years, sometimes reflected in objects, sometimes in houses, sometimes in videos, sometimes in his lectures at the university or in his studio. In the video installation W A K E, the artist makes a series of cuts: he separates the actor’s facial expressions from the film image by replicating his head as a 3D model; he divides the image into seven separate projections, which in turn intersect with and interrupt one another; he cuts up the soundtrack, reducing the animated narrative to a serial, technical list; and then there is the head severed from the torso, mirroring the text’s motif of decapitation on the visual level.
The head as motor control centre, generator of meaning, and interface to the world is also the object of the works Face1, Face2 and TysonTwin. In the single-channel projection TysonTwin, Mike Tyson’s head moves with its own slightly offset double (the traumatic motif of doubling recurs in Franzen’s work, as in the video loop Twin from 2009). We see the boxer and pigeon breeder twice, side by side, with a slightly mischievous, inward-looking smile, the kind that accompanies the moment an idea is born. Here, however, this moment is stretched to fourteen minutes. Franzen pieced the two motion sequences together out of many clips and filled the gaps with stills, creating an animation of Tyson: actual footage of Tyson becomes a simulation of Tyson in which Franzen controls the boxer’s facial expressions – a play on the figure of the sportsman, trained to function, and that of the artist, who pushes logics of functioning to stretching and breaking point.
The interaction of the two heads with the viewer’s own prompts a cheerful attentiveness of the kind that can only result from the interplay between human intention and material. Machines can’t do this. “Artificial intelligence doesn’t work,” Franzen explains, “because it doesn’t sustain the imagination.” In this light, the exhibition not only holds up a mirror to the human viewer (using a digital replica of an actor playing an asylum inmate playing a hanging judge and of a boxer doubled by the artist doubling himself) but also extrapolates fundamental questions facing the image in the age of its potential automation. The Marquis de Sade countered the objectivist fantasies of the revolution with subjective fantasies of human cruelty. By contrast, “W A K E” counters fantasies of digital automation with the kind of delirious alertness that can only be generated by a work animated by human imagination; a work that grasps the rift and the glitch as the most productive forms of all.