Julius Deutschbauer
Bilbliothek ungelesener Bücher
12.09.2019–18.01.2020
Fünfzigzwanzig, Salzburg
Staub in der Bibliothek ungelesener Bücher
Ein Text von Julius Deutschbauer
Die/der Bibliotheksbesucher*in sitzt in einem Ausstellungsraum, der nun für vier Monate als Bibliothekskammer fungiert mit Sicht durch die Fenster nach Süden.
„Durchs Glas des Fensters spürt man den allgemeinen Zustand des Himmels, gedämpfter und stiller, als er in Wirklichkeit ist. Ein mattes Blau sagt: die Sonne scheint, aber nicht bis zu mir. Ein ebenso mattes Grau, es wird regnen, aber nicht auf mich. Ein zartes Geräusch verrät fallende Tropfen. Ganz von ferne nimmt man sie auf, sie berühren einen nicht. Man weiß nur: die Sonne strahlt, Wolken gehen, Regen fällt [...]. Es genügt, sich durch die Beobachtungsfenster von dem Weiterbestehen einiger Naturgesetze zu überzeugen [...].“ (1)
Eine Wetterstation gibt Auskunft über Innen- und Außentemperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit.
Das Herz der Bibliothek bildet das Audioarchiv, in welchem inzwischen über 800 Interviews zu ungelesenen Büchern verzeichnet sind. Wie in anderen Bibliotheken üblich, führt auch die Bibliothek ungelesener Bücher eine Bestsellerliste: nach Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (22 Nennungen), James Joyce‘ Ulysses (20), der Bibel (19) und Marcel Prousts Die Suche nach der verlorenen Zeit (16) teilen sich mit je 10 Nennungen Karl Marx‘ Das Kapital und Adolf Hitlers Mein Kampf den 5. Platz.
Die Interviews beginnen mit der Frage: „Welches Wetter haben wir heute?“, die dem ersten Satz des Mann ohne Eigenschaften zu verdanken ist.
Diese „ständige Übung und Erfahrung haben“ mir „das Gehör geschärft“ und nach dem tausendsten Interview werde ich mich „in harten Prüfungen zu einem Wetterexperten herausgebildet“ haben. (2)
Daran schließt schon die Frage an: „Welches Buch haben Sie noch nicht gelesen?“
Alle Bücher sind erlaubt: geliebte ungelesene Bücher, ungeliebte ungelesene Bücher, übel beleumdete ungelesene Bücher und in den Himmel gelobte ungelesene Bücher. Nur keine Kunstbücher, diese stehen auf dem INDEX LIBRORUM PROHIBITORUM der Bibliothek ungelesener Bücher.
„Die Bibliothek“ ungelesener Bücher „ist aber auch gar nicht für Leser bestimmt. An ihr soll demonstriert werden, dass jede Wirklichkeit nur ein enger Ausschnitt aus dem Universum der Möglichkeiten ist und eben als solcher in der Zeit wiederholbar.“ (3)
Eine Bibliothek in Bänden und Heften – geradezu buchgelehrtenhaft und pedantisch. Die Bibliothek ungelesener Bücher hat primär Sprecher*innen, erst in zweiter Linie Leser*innen. Die Sprecher*innen müssen des Lesens kundige Un-Leser der von ihnen genannten und nicht gelesenen Bücher sein. Sie könnten dabei zu Lesarten gelangen, die derjenigen der Autor*innen, nur gleichen, damit aber nicht identisch sind. Die Sprecher*innen arbeiten an den Werken der im Dunkel bleibenden Urheber*innen weiter. Sie dürfen parteilich und ungerecht sein, weil sie ständig deren Gegenspieler bleiben.
So verbürgt die Bibliothek ungelesener Bücher eine große Seligkeit der reinen Zurschaustellung.
Ein Aufnahmegerät, ein Mikrofon sind das Kostüm des Bibliothekars, mein Kostüm, mit ihnen bin ich im Dienst; der Dienst findet in Wohnungen, Ateliers, Ämtern, Cafés usw. statt. Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom Himmel niederfielen, bald die ganze Gegend mit unermesslichem Schnee zugedeckt läge, werde ich von der Masse der aus allen Ecken und Ritzen auf mich eindringenden Geschichten ungelesener Bücher gleichsam eingeschneit. Zuweilen möchte ich mich erheben und alles wieder abschütteln, aber meine Anstrengungen bleiben meist wie in der Starrheit eines Denkmals stecken. Deshalb habe ich mich als einen in Erz gegossenen Helden entworfen, eine ellenhohe Bronzestatue, die zu der anderweitig längst überholten Fertigkeit im Stande ist, mit dem Kopf zu nicken bzw. nicht ganz recht zu ticken. Sie wippt, sie wippt nicht, sie wippt. Wippt sie?
Jedes genannte Buch wird angekauft und mit Hilfe von Schablone und Feder beschriftet: mit dem Namen derer/dessen, die/der dieses Buch nicht gelesen hat, und der Nummer des Interviews, mittels der man das Interview im Audioarchiv auffinden kann.
Da braucht man ein Buch, erhebt sich vom Diwan (vier Fünftel aller Gesprächspartner*innen antworteten auf die Frage „In welcher Stellung lesen Sie?“ mit „Liegend.“) und holt es. Bevor man es hat, drängen sich drei verdammte (das heißt wunderschöne) Fauteuils dazwischen, weiters ein kniehoher Tisch. Diese Möbel zerreißen den straffen Zusammenhang, kreuzen die schönsten Fährten – es entfernt einen um Meilen vom gewünschten Buch. Wie oft greift man falsch und kehrt ahnungslos zum Diwan zurück. Dann bemerkt man es wohl.
„Und wenn er [der Divan] nun künstlich Lasten trüge? Wenn man ihn mit einer Schicht schöner Bücher belüde? Wenn er ganz verdeckt wäre von Büchern, dass man ihn fast nicht sieht?“ (4)
Ich muss mir noch ausrechnen, wie viele Jahre es sich hier lesen ließe, ohne dass man einmal auf die Straße gehen müsste.
„Ich brauche die vielen Bücher, die ich [...] beinahe jeden 2. Tag kaufe [...], um jedes 1 wenig anzusaugen, ich meine ich kann keines der Bücher zu Ende lesen, aber es ist 1 Köstlichkeit, 1 Mal hier, 1 Mal dort sich etwas einflüstern zu lassen, nicht wahr [...].“
Das Staubtuch und nicht der Charakter macht den guten Bibliothekar. So finden sich in der Bibliothek ungelesener Bücher ein Staubtuch („Das beste Staubtuch, bitte!“ [6]), ein Schleifpapier der Körnung 220 gegen hartnäckige Verunreinigungen, ein Bleistiftspitzer. Damit wären auch die Aufgaben des Bibliothekars einigermaßen umrissen. Als solcher schwanke ich zwischen dem „Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren!“ und „Ich lese niemals eines von den Büchern!“ (7) und dem lesend-devoten Bibliothekar aus Ulysses von James Joyce. Von ihm heißt es: „[…] schnurrend [...] tänzelnd auf knarrendem Rindsleder und einen Schritt zurück auf dem feierlichen Fußboden [...] doch noch verweilend [...] davoncouratierend [...] sanftknarrfüßig, kahl, beohrt und unverdrossen [...] freundlich und ernst [...] errötend sagt seine Maske: Mr. Dedalus, Ihre Ansichten sind höchst erhellend [...] zehenspitzelnd [...]. Die huldvolle Stirn des Quäker-Bibliothekars entflammt in rosiger Hoffnung [...]. Glückselig bricht er ab und hielt ein demütiges Haupt unter sie [...] gleichmäßig nach allen Seiten lächelnd [...]. Im taglichten Flur spricht er mit redseligem Eifer, ganz Pflichterfüllung, höchst artig, höchst freundlich, höchst ehrenwert [...] in gottseligem Buchgespräch [...] ein äußerst erfreutes Arschloch [...].“ (8) immer wieder mischt er sich in die Gespräche der Bibliotheksbesucher*innen ein.
Aber ich bin auch Gastgeber. Einmal im Monat lade ich zu „Lesen und Handarbeiten im Zirkel“ in die Bibliothek ungelesener Bücher. Das erklärte Ziel des Zirkels ist ein Zustand, in dem ein und derselbe Mensch blind handarbeitet und daneben liest. Dabei können sich Lese- und Strickfaden mitunter ganz schön verheddern.
„Sie gafften den Ankömmling ungläubig an und ließen ihr Häkelzeug fallen.“ (10)
Gelesen wird zu Themen wie Nische, Schachtel, falten. Gekrönt wird der Zirkel durch eine geladene AutorInnenlesung. Gestrickte und gehäkelte Buchhüllen, geklöppelte Ärmelschoner und gestickte Andachtsbildchen von Autor*innen und Dichter*innen zeugen stumm vom Fleiß der Bibliotheksbesucher*innen: „Stricken? Blockflöte spielen? Übungen für Sex“ , nennt das Ann Cotten in ihrem Verseepos „Verbannt!“.
„Die beste Definition von Heimat ist Bibliothek.“ (11) postuliert Elias Canetti in seinem Roman „Die Blendung“. Einen winzigen Bruchteil der Bibliothek ungelesener Bücher führe ich immer mit mir. Frech und blind fülle ich die Tasche an. Passt mir ihr Inhalt plötzlich nicht, so leere ich sie aus und suche wieder. Fällt mir die Tasche zufällig zu Boden, öffnet sich ihr Verschluss, den ich jeden Morgen vor dem Weggehen nachprüfe. Nichts hasse ich mehr als schmutzige Bücher.
„Dann wird mit einem Mal der Staub auf den Büchern sichtbar. Sie sind alt, stockfleckig, riechen moderig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruss, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich. Bücher machen kurzsichtig und lahmarschig, ersetzen, was nicht zu ersetzen ist. So entsteht aus Stickluft, Halbdunkel, Staub und Kurzsichtigkeit, aus der Unterwerfung unter die Surrogatfunktion, die Bücherwelt der Unnatur.“ (12)
„er: also für den besen? / sie: der ist schon dran gewesen. / er: aber mit verlaub, / überall liegt staub!“ (13)
Seit 1997 betreibt Julius Deutschbauer die meist nomadische „Bibliothek ungelesener Bücher“. Nach Stationen in Wien, Brüssel, Basel, Zürich, New York, Philadelphia, Linz, Berlin, Goldegg, Klagenfurt usf. ist sie ab September für einige Monate in der FÜNFZIGZWANZIG installiert.
Mehr Informationen hier und unter www.bibliothek-ungelesener-buecher.com
Fußnoten:
(1) Elias Canetti, Die Blendung, Frankfurt: Fischer 1997, S. 68f.
(2) Florjan Lipuš, Der Zögling Tjaž, Klagenfurt: Wieser, 1992, S. 7.
(3) Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 133f.
(4) Elias Canetti, ebd. S. 58.
(5) Friederike Mayröcker, brütt oder Die seufzenden Gärten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 94.
(6) Elias Canetti, ebd., S. 22.
(7) Bibliothekar der Staatsbibliothek in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Hamburg: Rowohlt 1978, S. 462.
(8) James Joyce, Ulysses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 281-301.
(9) Anna Baar, Als ob sie träumend gingen, S.82
(10) Ann Cotten, Verbannt!, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 8.
(11) Elias Canetti, ebd. S. 57.
(12) Hans Blumenberg, ebd. S. 17.
(13) Gerhard Rühm, Theaterstücke. Goldene Hochzeit, in: Gesammelte Werke, Bd 5., Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 671.